Nadelätzung, Kaltnadel, Aquatinta und Polierstahl, Kn 32 II
Ursprünglich plant Käthe Kollwitz ihren Zyklus »Ein Weberaufstand« mit der symbolistischen Radierung »Aus vielen Wunden blutest du, o Volk« zu beschließen, die stilistisch Max Klingers Einfluss verrät. Das in der Gegenwartsform gehaltene Zitat belegt, dass die Künstlerin mit ihrem Weber-Zyklus auf aktuelle Probleme anspielt.
Dies verdeutlicht auch die Figur des sich auf sein Schwert stützenden Rächers. Sie soll als allegorische Gestalt der Revolution die Befreiung des Volkes ankündigen. Für die Leidenden stehen die beiden gefesselten Frauen und der liegende Leichnam vor dem Rächer, der mit einer Berührung auf dessen Seitenwunde hinweist.
Der formale Rückgriff auf Hans Holbeins »Christus im Grabe« (um 1521/22) sowie auf die Schächer der Kreuzigung muss vor dem Hintergrund der Säkularisation und Kollwitz' Weltanschauung verstanden werden. Sie ermöglichen, Leben und Tod Christi als Synonym für das Leiden auf jeden Menschen oder ganze Bevölkerungsgruppen zu übertragen.
Der Rächer ist zu verstehen vor dem Hintergrund der Kritik, welche die jungen sozialdemokratischen Intellektuellen, allen voran Konrad Schmidt, der Bruder der Künstlerin, an Gerhart Hauptmanns Mitleidsdrama »Die Weber« übten. In einer Rezension des Stücks in der Freien Volksbühne kritisiert er 1898 den trostlosen Ausgang des Schauspiels und beklagt, dass im Gegensatz zu Zolas Roman »Germinal« kein Ausblick auf Rache gegeben wird.
Käthe Kollwitz, Aus vielen Wunden blutest du, o Volk, 1896, Bleistift auf weißem Bütten, NT 122