Der »Schwebende« von Ernst Barlach
Fußläufig vom Käthe Kollwitz Museum erreicht man die gotische Antoniterkirche in der Kölner Schildergasse. Dort befindet sich zwar kein von Käthe Kollwitz gestaltetes Werk, doch begegnet uns die Künstlerin hier in besonderer Weise: Der im Jahr 1927 von Ernst Barlach (1870–1938) geschaffene »Schwebende Engel« trägt unverkennbar die Gesichtszüge der Kollwitz.
Die überlebensgroße bronzene Figur schwebt im Seitenschiff der Kirche über Kopfhöhe in waagerechter Position. Der Rücken ist gerade gestreckt, die Arme sind vor der Brust gekreuzt. Die friedvoll-schwebende Haltung sowie die Gesichtszüge mit festverschlossenen Augen und Mund strahlen eine eindrucksvolle Ruhe aus. Trotz dieses Nachinnengerichtetseins besitzt die Figur eine enorme Präsenz.
In den Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne dass ich es mir vorgenommen hatte. Hätte ich sowas gewollt, wäre es mir wahrscheinlich missglückt.«
Ernst Barlach, Brief an Reinhard Piper, 1928
Ernst Barlach, Der Schwebende, 1926/27, Bronze, Antoniterkirche Köln
Käthe Kollwitz, Selbstbildnis von vorn, 1922/23, Holzschnitt, 15 x 15,6 cm, Kn 193, Käthe Kollwitz Museum Köln
Eine wechselvolle geschichte
Ursprünglich entsteht Barlachs »Schwebender« für den Güstrower Dom zur 700-Jahr-Feier und als Mahnmal für die Gefallenen im Ersten Weltkrieg. Am 23. August 1937 wird das Original als ›Entartete Kunst‹ aus dem Güstrower Dom entfernt. Es sei »eine Beleidigung für jeden Soldaten«. Der Guss wird nach Schwerin gebracht und 1941 im Rahmen der sogenannten ›Metallspende des deutschen Volkes‹ eingeschmolzen.
Bernhard A. Böhmer, ein Freund Ernst Barlachs, ist es, der 1939 bei der Berliner Bildgießerei Hermann Noack einen Bronze-Nachguss nach dem zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden, später jedoch ebenfalls zerstörten Gipsmodell in Auftrag gibt. Dieser Zweitguss wird während der Kriegsjahre in der Lüneburger Heide versteckt und übersteht so die nationalsozialistische Kunstpolitik unbeschadet.
Nach dem Krieg wendet sich das Barlach-Gremium, das den Nachlass des Künstlers verwaltet, an die Stadt Köln und bietet dem Wallraf-Richartz-Museum diesen Guss zum Kauf an. Insbesondere durch das Engagement Leopold Reidemeister, dem Direktor des Wallraf-Richartz-Museums, und der Initiative einiger Barlachfreunde gelingt die Vermittlung der Plastik an die Antoniterkirche. Dank einer umfangreichen Spendenaktion kann der Engel für die 1942 bei einem Luftangriff zerstörte und nun wiederaufgebauten Kirche 1952 erworben werden. Als Mahnmal erinnert er hier bis heute an die Kriegstoten beider Weltkriege.
Vom Kölner Exemplar wird später ein Abguss für den Güstrower Dom angefertigt. Seit dem 8. März 1953 hängt der »Schwebende« auch dort wieder an seinem einstigen Platz.
Käthe Kollwitz und Ernst Barlach
Wenn ich mich frage, worauf der starke Eindruck beruht, den Barlachs Arbeiten von jeher auf mich machten, so glaube ich, ist es dies, wie er selbst einmal formuliert hat: ›es ist außen wie innen‹. Seine Arbeit ist außen wie innen. Form und Inhalt decken sich aufs genaueste. Dies ist das Überzeugende in seiner Arbeit.«
Käthe Kollwitz, aus: Freundesworte. Ernst Barlach zum Gedenken, 1939
Ernst Barlach und Käthe Kollwitz werden auch heute noch oft in einem Atemzug genannt. Ihre gegenseitige Hochachtung und künstlerische Inspiration sind manifest. Vor allem Käthe Kollwitz betont wiederholt die starke Beeinflussung von Barlachs künstlerischem, insbesondere bildhauerischem, Schaffen. Zeitlebens fühlen sie sich einander verbunden. Im Jahr 1919 werden Kollwitz und Barlach gemeinsam in die Preußische Akademie der Künste berufen, wodurch sie sich in den Akademiesitzungen auch persönlich öfters begegnen. Im Zeichen der NS-Diktatur widerfährt Ihnen, wenngleich auch zeitversetzt, gleiches Schicksal: beide müssen die Akademie gezwungenermaßen verlassen.
Zu Barlachs Beerdigung im Oktober 1938 fährt Kollwitz nach Güstrow. Im Monat nach der Trauerfeier notiert sie in ihr Tagebuch: »Es ist mir manchmal, als ob der tote Barlach mir seinen Segen hinterlassen hat. Ich kann gut arbeiten.« (Käthe Kollwitz, Tagebücher, November 1938). Ihr Relief »Die Klage« entsteht unter diesem Eindruck und vor dem Hintergrund der Stellung ihres Bildhauerkollegens unter dem NS-Regime, das Barlachs Werk als sogenannte ›entartete Kunst‹ verfemt hat.
Die spätgotische Antoniterkirche auf der vielbesuchten Einkaufsstraße Schildergasse, gegründet 1384 als Niederlassung des Antoniterordens, wurde nach der Säkularisierung 1794 als erste evangelische Pfarrkirche Kölns 1805 wiedergeöffnet. Das Chorfenster des frühen 16. Jahrhunderts mit einer Kreuzigungsdarstellung, der Guss des »Schwebenden« sowie die Plastiken »Der Lehrende« und »Kruzifix II« von Ernst Barlach zählen zu den herausragenden Ausstattungsstücken.
Adresse:
AntoniterCityKirche
Schildergasse 57
50667 Köln
Öffnungszeiten:
Zu den Gottesdiensten und zu den Öffnungszeiten des AntoniterFoyers
Montag bis Freitag 11 bis 18 Uhr
Samstags 12 bis 17 Uhr
Sonntags 12 bis 17.30 Uhr
Weitere Informationen
Ernst Barlachs »Der Schwebende« in der Antoniterkirche Köln
mit Antje Löhr-Sieberg
Feature von Domradio Köln und AntoniterCityTours, 2008