Strichätzung, Kaltnadel, Aquatinta bzw. Pinselätzung und Schmirgel, Kn 51 VII
Im Frühwerk der Künstlerin gibt es zahlreiche Werke, die durch literarische Vorlagen, etwa von Émile Zola inspiriert sind.
Anregung zu dieser Radierung findet Käthe Kollwitz in Charles Dickens »A Tale of Two Cities« (1859). Der Schriftsteller beschreibt darin die Zeit der Französischen Revolution in London und Paris. In einer Szene des Romans tanzen Hunderte von Menschen zu dem bekannten Revolutionslied »La Carmagnole«, wobei ihre revolutionäre Begeisterung in besinnungslosen Taumel umschlägt. Dieses Sturmlied der französischen Revolution war 1792 bei der Einnahme von Carmagnola aufgekommen, jede Strophe endet mit dem Refrain: »Dansons la Carmagnole/ Vive le son du canon« (»Lasst uns die Carmagnole tanzen/ Es lebe der Klang der Kanone«).
Wie in Ekstase tanzen in der Radierung von Käthe Kollwitz die zerlumpten Gestalten, überwiegend Frauen, zum Rhythmus eines trommelnden Jungen um eine Guillotine. Merkwürdigerweise versetzt sie die Szene aus Paris in eine deutsche Stadt. Die hohe Fachwerkarchitektur soll angeregt worden sein durch einen Besuch im Hamburger Gängeviertel. Genauso gut könnte es sich dabei aber auch um das Königsberger Speicherviertel, also die Heimatstadt der Künstlerin, handeln.
Darüber hinaus lässt die Künstlerin das historische Ereignis in der Gegenwart stattfinden, wie die Arbeiterkleidung verrät. Vielleicht spielt hierbei auch eine Rolle, dass Käthe Kollwitz wie viele sozialdemokratische junge Intellektuelle, darunter auch ihr Bruder Konrad Schmidt, eine Revolution zur Erlangung des sozialistischen Zukunftsstaates erwartet.
Käthe Kollwitz, Tanz um die Guillotine, Blatt 9 der »Richter-Mappe«, Faksimile der Handzeichnung NT 179, 1901, Bleistift, Privatbesitz Berlin