1890 kehrt Käthe Kollwitz nach Königsberg zurück, nachdem sie ihr zweijähriges Studium in München beendet hatte. Immer auf der Suche nach Motiven findet die junge Künstlerin eine günstige Gelegenheit für eine spontane Zeichnung in ihrer auf dem Sofa eingeschlafenen Schwester Lise – da muss man nicht lange zum Stillsitzen überreden! Kurzerhand zerteilt sie einen griffbereiten Bogen und zeichnet das Porträt mit spitzer Feder. Damit zerstört sie leider ein Aquarell, das wir gerne kennengelernt hätten. War es ihr misslungen? Wen hatte sie porträtiert? Hätten wir noch mehr spannende Farbkombinationen entdecken können? Auch im Werkverzeichnis wird nur die Tuschezeichnung dokumentiert, die Rückseite ›unterschlagen‹. Der Rest des Kartons ist leider verschollen.
Als junge Kunststudentin in München beschäftigt Kollwitz sich, angeregt durch Max Klinger, mit der Frauenfrage. Es entstehen Zeichnungen wie das ›Martyrium der Frau‹ von 1889, mit Feder und Pinsel in Tusche, auf handgeschöpftem Bütten. Kollwitz verwahrt das Blatt, vielleicht in einer Zeichenmappe, und stellt es unseres Wissens nie aus. Lange haben wir die Rückseite des Blattes nicht beachtet: Die Künstlerin nutzt diese für Skizzen, zeichnet ihre linke Hand, porträtiert sich selbst indem sie sich in Augen-, Nasen-, Mundpartien übt, und skizziert, was sie gerade vor sich sieht: einen abgelegten Regenschirm sowie einen Tisch mit Stuhl. Eine ungewöhnliche Kombination mit ›Stillleben‹!
Aquarellierte Pflanzenstudien von Käthe Kollwitz? Nein, es sind die eines kleinen Künstlers! Während die Mutter arbeitet, sind ihre Kinder in der Nähe, in ihrem Atelier, und spielen, machen Hausaufgaben. Vermutlich vertieft ihr Sohn Hans hier sein in der Schule erlerntes Wissen zur Botanik zeichnerisch auf dem Papier – auf der Rückseite seines eigenen Porträts, das seine Mutter um 1903/04 vom etwa Zehnjährigen anfertigte. Schauen Sie sich auch die Kante an – so führen nur Kinderhände die Schere!
Käthe Kollwitz formuliert ihren eindringlichen Appell Nie wieder Krieg 1924 – zehn Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges. Bereits Anfang dieses Jahres beruft sich die Hamburger Rockband Tocotronic mit dem Titel ihres neuen Albums auf das weltweit bekannte Anti-Kriegsplakat. Der gleichnamige Titelsong thematisiert dabei noch mehr als die zeitlos gültige politische Botschaft: Er erzählt von persönlichen Schicksalen, Verletzlichkeit und Einsamkeit. Gleichzeitig macht der Song Hoffnung und motiviert zum Aufbruch. Der beschwörende Appell der Künstlerin wird zu einer persönlichen Mission, deren Dringlichkeit uns in jeder Alltagssituation bewusst wird.
Auch wir identifizieren uns wieder mit dem Kollwitz-Plakat, es ist heute aktueller denn je. Seit fast hundert Jahren ruft der Jugendliche mit erhobener Schwurhand diese Botschaft. Der Junge – das sind Sie, Du und ich, mit der Hand auf dem Herzen: Wir alle wollen Nie wieder Krieg!
Was zeigen wir, und was verbergen wir? Mit der Entscheidung, welchen Passepartout-Ausschnitt wir wählen, wird der Blick des Betrachters maßgeblich beeinflusst. Auf diesen Blättern befinden sich randseits Arbeitsspuren, die Aufschluss über Kollwitz‘ Zeichentechnik geben: Strich- und Schraffurproben sowie Wischungen. In der Präsentation würden diese aber vom Bilderlebnis ablenken. Beim Selbstbildnis legten deshalb bereits die Erstbesitzer den Bildausschnitt fest. Doch dies hatte seinen Preis: Der Lichteinfall ließ das Papier unterschiedlich altern. Bei der Kohlezeichnung NT 497 hat die Künstlerin selbst die Arbeitsspuren einfach weggefaltet.
Auf der Rückseite einer späten Zeichnung zum Thema ›Mutter und Kind‹ (NT 1245) aus den 1930er Jahren befindet sich eine schwer deutbare, halbrunde Form, die lange Zeit ein Rätsel aufgab. Während einer Recherche im Werkverzeichnis zu den Aktstudien der Künstlerin aus den frühen 1900er Jahren fällt die Abbildung einer Studie (NT 336) besonders auf: Der Bildausschnitt ist ungewöhnlich eng gefasst, wirkt angeschnitten. Eine Computersimulation legt die mögliche Lösung nahe: Das Blatt wurde getrennt, die halbrunde Form auf der Rückseite der Kölner Zeichnung zeigt den Po des Modells! Leider ist die andere Hälfte – der Oberkörper des sitzenden weiblichen Aktes – heute verschollen und nur photographisch nachweisbar.